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Das Projekt RehaTransHome will dabei unterstützen, dass Menschen trotz bestehender Einschränkungen gut zu Hause zurechtkommen.

 

Sind Menschen durch eine akute oder chronische Erkrankung körperlich, geistig oder seelisch deutlich beeinträchtigt, kann aus medizinischen und sozialen Gründen eine stationäre Rehabilitation hilfreich sein, den Gesundheitszustand zu bessern. Dennoch müssen Patientinnen und Patienten im Anschluss häufig mit Einschränkungen im Alltag zurechtkommen. Die Frage, wie das therapeutische Team die Menschen schon vorab gezielt auf die Rückkehr nach Hause vorbereiten kann, führte zum Projekt RehaTransHome, welches im Rahmen der Programmlinie „WIR! – Wandel durch Innovation in der Region“ durch das Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und durch die Translationsregion für digitalisierte Gesundheitsversorgung (TDG) betreut wurde.

Genaue Einblicke fördern Selbständigkeit

Für die Zeit nach der Reha stehen ganz oft die Mobilität und das selbstständige Bewältigen alltäglicher Handlungen im Mittelpunkt. Damit die Rehabilitanden zu Hause so selbstständig und sicher wie möglich zurechtkommen, wäre vor der Entlassung eine Inaugenscheinnahme des häuslichen Umfeldes ideal. So ließe sich erkennen, was am dringlichsten trainiert werden müsste. Individuell und bedarfsgerecht könnte beispielsweise dazu beraten werden, welche Sturzgefahrenquellen beachtet oder beseitigt werden müssten und welche Hilfsmittel wie etwa Haltegriffe, Rollator oder Pflegebett, passend und anwendbar wären. Da dies in der Praxis jedoch kein realisierbarer Weg ist, wird mit den Informationen der Patientinnen und Patienten gearbeitet. Doch wer weiß schon genau, wie hoch das Bett oder die Schwelle an der Tür ist? Aus diesem Grund wurde ein Weg gesucht, ohne großen personellen Aufwand konkrete Angaben zu den maßgeblichen Details zu erhalten.

Virtueller Rundgang zeigt die Herausforderungen

Das Projektteam RehaTransHome entwickelte eine digitale Möglichkeit, den persönlichen Wohnraum auf den Klinikbildschirm zu holen. Auf dem Monitor erklärt Uta Kirchner-Heklau, Diplom Ergotherapeutin (FH) sowie Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin (M. Sc.), einer Schlaganfall-Patientin: „Schauen Sie, diese Teppichkante hier kann eine Sturzgefahr sein und der Stuhl dort an der Tür kann hinderlich sein, wenn Sie mit dem Rollator im Wohnzimmer unterwegs sind.“ Nacheinander schauen sie sich alle weiteren Räume an – Küche, Schlafzimmer, Bad. Neben ihnen steht Softwareentwickler Marcel Deutschel mit einer Virtual-Reality-Brille (kurz: VR-Brille). Wie in einem Videospiel bewegt er sich virtuell durch die Räume des 3D-Modells. Dabei kann er zum Beispiel Türbreiten, die Höhe der Türschwelle, des Einstiegs in die Dusche oder andere Stufen direkt messen, notieren und anschließend exportieren.

Das Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg arbeitete gemeinsam mit codemacher, einem kleinen Unternehmen für Software-Entwicklung aus Halle (Saale) und Mitarbeiterinnen aus der Reha-Saale-Klinik II in Bad Kösen an der Entwicklung des virtuellen Wohnraumassessments. Die Vision für das Projekt sowie die Projektleitung hatte Prof. Dr. habil. Susanne Saal, Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin, Physiotherapeutin und Professorin an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena.

Digitaler Fortschritt unterstützt neue, praktikable Möglichkeiten

Uta Kirchner-Heklau arbeitet am Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und hat die Umsetzung der Vision "RehaTransHome" wissenschaftlich begleitet. „Bis zu diesem ersten Prototyp haben wir einige Herausforderungen gemeistert“, sagt sie. Zunächst wurden die Nutzeranforderungen des therapeutischen Teams zusammengetragen und die technischen Möglichkeiten mit dem Softwareentwickler besprochen. „Dabei spielte uns der technische Fortschritt in die Karten“, meint die Koordinatorin lächelnd. „Zu Projektbeginn gab es zunächst nur sehr große, schwere und langsame 3D-Scanner, die wir für das Erstellen des dreidimensionalen Wohnraum-Modells benötigten. Doch schon wenige Monate später konnten wir Smartphones einsetzen, die mit einer entsprechenden App einen 3D-Scan in wenigen Minuten anfertigten.“ Durch das Abschreiten und Erfassen aller Ecken eines Raumes entsteht davon eine Art Videoaufnahme. Das 3D-Modell ist sofort sichtbar und kann wie ein Foto abgespeichert werden. Dieses dreidimensionale Foto lässt sich später am Bildschirm drehen, heran- und herauszoomen.

Prototyp im Test erfolgreich

Innerhalb von 12 Monaten entstanden schrittweise mit wiederholten Feedbackschleifen der Prototyp und ein Konzept zur klinischen Nutzung für die Ergo- und Physiotherapie. „Natürlich waren die technische Ausstattung der Klinik sowie die regulären klinischen Abläufe zu berücksichtigen.“ Uta Kirchner-Heklau erklärt, dass die Wohnraumdaten im RehaTransHome-Projekt pseudonymisiert unter einer Kennnummer auf einem Server der Martin-Luther-Universität abgelegt waren. Das therapeutische Team konnte diese dann flexibel in der Klinik abrufen. Einzige Voraussetzung: ein VR-fähiger Laptop. „Die praktische Umsetzung probten wir im Rahmen einer Machbarkeitsstudie erfolgreich in Bad Kösen.“ Der digitale Einblick ermöglichte dem therapeutischen Reha-Team genau die unterstützende Vorbereitung der Heimkehr, die von ihnen gewünscht und für die Menschen so hilfreich ist.

Pflegerischen Herausforderungen gemeinsam begegnen

Uta Kirchner-Heklau kann sich als weiterführende Einsatzmöglichkeit auch ein Potenzial für die Pflegebegutachtung im ambulanten Bereich vorstellen. „In einem Pflegegutachten werden Empfehlungen zu Pflegehilfsmitteln, wohnumfeldverbessernden oder rehabilitativen Maßnahmen aufgenommen, um die Selbstständigkeit zu verbessern.“ Sina Dickner, die im Medizinischen Dienst Sachsen-Anhalt den Geschäftsbereich Pflege leitet, kann dieser Überlegung nur beipflichten. „Verständlicherweise wünschen sich die Menschen, dass sie so lange wie nur möglich in ihrem gewohnten Lebensumfeld bleiben können. Diesen Wunsch unterstützen wir mit unseren pflegefachlichen Empfehlungen zum Erhalt der Selbständigkeit. Der persönliche Besuch der Menschen hilft uns dabei durch den Blick in ihr Wohnumfeld.“ Ein Hausbesuch sei allerdings mitunter auch eine belastende Ausnahmesituation, die nicht in jedem Fall zwingend notwendig sei. Bei einer Palliativversorgung oder bei fortgeschrittenen Krebserkrankungen könne der Pflegebedarf beispielsweise auch ohne einen persönlichen Besuch festgestellt werden. „Das ist in den ohnehin belastenden Situationen weniger aufreibend und schützt die betroffenen Menschen vor Infektionen“, sagt Sina Dickner. „Alternative Begutachtungswege per Telefon oder Video können hier eine gute Ergänzung sein. Das haben uns auch die positiven Rückmeldungen der Menschen zur telefonischen Begutachtung bestätigt.“ Diese war während der Corona-Pandemie das gesetzlich legitimierte Mittel anstelle der Hausbesuche. „Die Möglichkeit zur telefonischen Pflegebegutachtung ist aber zum 30. Juni 2022 erloschen.“

Sachsen-Anhalt ist eines der Bundesländer, das angesichts der demografischen Entwicklung in der medizinischen wie pflegerischen Versorgung vor sehr großen Herausforderungen steht. Um hierfür frühzeitig Strategien und Lösungen zu entwickeln, entstand im Zuge des Förderprogrammes WIR!-1 durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Translationsregion für digitalisierte Gesundheitsversorgung, kurz TDG.
Als Innovationsmotor für eine digitalisierte Gesundheitsversorgung will sie dabei helfen, die Versorgung der Menschen in der Praxis auf moderne Füße zu stellen. In ihren Projekten werden zielgenaue Problemlösungen für technologische Einzelfragen und Gesamtzusammenhänge entwickelt, erforscht und getestet. Schwerpunkte sind dabei die pflegerische Versorgung und Autonomieerhalt im Alter. 
Die TDG ist ein Bündnis aus Wissenschaft, Wirtschaft und Versorgung und umfasst im südlichen Sachsen-Anhalt und den angrenzenden Bundesländern Sachsen und Thüringen eine ca. 3.200 Quadratkilometer große Region, die hinsichtlich wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungs- wie Versorgungsfragen vor ähnlichen bis gleichen Herausforderungen steht.

Versorgungssicherheit erhalten

Jens Hennicke, Vorstandsvorsitzender des Medizinischen Dienstes Sachsen-Anhalt und Mitglied im TDG-Beirat prognostiziert: „Wir müssen den digitalen Fortschritt auch weiterhin ganz gezielt zur Unterstützung nutzen, um die Pflegebegutachtung zukunftssicher und krisenfest zu machen.“ Jahr um Jahr verzeichnet der Medizinische Dienst Sachsen-Anhalt eine steigende Zahl an Aufträgen zur Feststellung des Pflegebedarfes. „Der Anspruch unserer pflegefachlichen Gutachterinnen und Gutachter ist, den Zugang zu den meist dringend benötigten Leistungen möglichst zeitnah sicherzustellen“, sagt Sina Dickner. Allerdings ist das Team der pflegefachlichen Experten, die dafür im Einsatz sind, begrenzt. „Der Medizinische Dienst müsste dafür jedes Jahr neue Fachkräfte einstellen und anlernen. Diese werden aber ebenso dringend in der praktischen pflegerischen Versorgung gebraucht.“ Erschwerend komme hinzu, dass Sachsen-Anhalt ein Flächenland ist. „Dadurch sind die Fahrwege zwischen den einzelnen Hausbesuchen mitunter recht weit“, sagt Sina Dickner. Durch die wirtschaftlichen Entwicklungen infolge des Ukraine-Krieges und vor allem durch die Klimakrise sei jede einzelne Fahrt wohl zu überlegen. „Eine Videobegutachtung kann den hilfreichen Blick in den persönlichen Wohnraum ressourcenschonend ermöglichen“, verdeutlicht Sina Dickner. „Mit der Möglichkeit zur Wahl alternativer Begutachtungsformen ließe sich die im individuellen Fall passende Begutachtungsform wählen. Außerdem würde diese Option helfen, trotz steigender Begutachtungszahlen den zeitnahen Zugang zu den Pflegeleistungen zu ermöglichen.“ „Dazu bedarf es aber einer allgemeingültigen Regelung“, ergänzt Jens Hennicke.

Inwiefern der Prototyp aus dem Projekt RehaTransHome die Fachkräfte des Medizinischen Dienstes unterstützen könnte und welche technischen Funktionen hierfür gegebenenfalls noch benötigt würden, wäre für Uta Kirchner-Heklau „ein spannendes Workshop-Thema“.

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